Stress im Job: “Es geht mehr und mehr ins Absurde”

Foto von Munkhjin Enkhsaikhan
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Arbeitnehmer stehen beruflich zunehmend unter Druck. Viele fühlen sich bei der Arbeit regelrecht gehetzt. Angesicht der Tatsache, dass immer mehr Unternehmen mit flexiblen Arbeitszeitmodellen und anderen Benefits werben, fragt man sich, warum dies so ist.

Im Interview mit transparent-beraten.de erklärt Prof. Dr. Manuel Tusch, Leiter des Instituts für Angewandte Psychologie und Coach-Ausbilder, wie weit Vorstellungen und Realitäten in Zusammenhang mit dem Berufsleben auseinander liegen und wie wir es schaffen, mehr Sinnhaftigkeit in unseren Arbeitsalltag zu bringen.

transparent-beraten.de: Herr Tusch: Wie geht es Arbeitnehmenden aktuell?

Manuel Tusch: Viele Arbeitnehmende leiden unter den zunehmend sich verschärfenden Bedingungen: Stress, mangelnde Wertschätzung, Sinnentleertheit. Gleichzeitig suggerieren uns die sozialen Medien ein vermeintlich buntes und lustiges Schaffen, in stylischen Lofts mit Yoga in der Mittagspause. Die Realität sieht in 99 Prozent der Fälle ganz anders aus: lärmendes Großraumbüro mit Bildschirmarbeit und Rückenschmerzen.

tb: Office Managerin statt Sekretärin, Facility Manager statt Hausmeister – Sind die heute üblichen “fancy” Berufsbezeichnungen und kaum erfüllbare Profilbeschreibungen ein Zeichen gestiegener Ansprüche von Arbeitgebern?

Tusch: Es geht in der Tat mehr und mehr ins Absurde: Viele Firmen versuchen, Arbeitnehmer mit übersteigerten Begrifflichkeiten und Beschreibungen für sich zu gewinnen. Der Schuss geht natürlich nach hinten los, wenn die wirkliche Wirklichkeit offenbar wird. Gleichzeitig kann es sinnvoll sein, sich als Arbeitnehmer mit kühlem Blick zu vergegenwärtigen, dass der Job letztlich „nur“ ein Tauschgeschäft ist: Ich gebe meine Lebenszeit und erhalte dafür einen Lohn, mit dem ich die verbleibende Lebenszeit gestalten kann.


“Wer heutzutage „nur“ 100 Prozent gibt, gilt als Low Performer.”

tb: Sie sagen in Ihrem Buch, dass heute die “normale” Arbeit nicht mehr geschätzt wird. Warum ist das so und was macht diese fehlende Wertschätzung mit den Arbeitnehmern?

Tusch: Wer heutzutage „nur“ 100 Prozent gibt, gilt als Low Performer. Es müssen schon mindestens 150 Prozent sein. Ferner wird häufig erwartet, dass ein Leuchtturm nach dem anderen errichtet wird. Dabei wird übersehen, dass die Arbeitswelt auch von völlig normalen und banalen Tätigkeiten und entsprechenden Ergebnissen lebt. Wer kümmert sich denn um das Tagesgeschäft, wenn sich alle gegenseitig mit ihren Leuchttürmen überbieten? Ferner leben wir in einem Kulturraum der mangelnden Wertschätzung: So lange nichts gesagt wird, ist alles weitgehend gut – der Mund wird immer nur dann geöffnet, wenn etwas schiefläuft, wenn es etwas zu kritisieren gibt.

tb: In Ihrem Buch animieren Sie den Leser, seine Bedürfnisse zu identifizieren und zu schauen, welche Bedürfnisse mit welchen Lebensbereichen verbunden sind. Ist denn der Arbeitsplatz überhaupt der geeignete Ort, um seine Bedürfnisse z. B. nach Anerkennung oder Selbstverwirklichung zu befriedigen? Ist nicht die Erwartungshaltung einfach zu groß?

Tusch: Bedürfnisse können immer und überall und auf sehr vielfältige Weise befriedigt werden. Auch am Arbeitsplatz kann ich mein Bedürfnis nach Wertschätzung erfüllen. Wenn wir anfangen, eine andere Feedbackkultur zu installieren, kann das sehr rasch gelingen. Auch kann ich immer wieder versuchen, mehr Sinnhaftigkeit in mein Berufsleben zu bringen. Möglicherweise kann ich im Großraumbüro vom Schreibtisch aus nicht unbedingt Wale retten. Ich kann mich jedoch als freundlicher und hilfsbereiter Mensch erweisen, der andere tatkräftig unterstützt. Auch das gibt mir Kraft und Energie zurück. Mehr, als ich da rein investiert habe.


“Offene, wertschätzende Gespräche sind nötig!”

tb: Haben Sie Vorschläge, was Arbeitgeber und Arbeitnehmer tun können, um die Situation zu verbessern?

Tusch: Ein erster Schritt kann sein, den multimedialen Overkill auszubremsen: Der durchschnittliche Arbeitnehmer wird alle drei Minuten aus seiner Tätigkeit herausgerissen. Er braucht aber acht Minuten, um wieder hineinzufinden. Diese Rechnung kann nicht aufgehen! Ferner kann es hilfreich sein, auch das Alltagsgeschäft wieder stärker zu würdigen, denn die ganz „normale“ Arbeit bildet ja das Fundament, auf dem dann einzelne Leuchttürme errichtet werden können. Die bereits erwähnte neue Feedbackkultur wäre wünschenswert. Darüber hinaus habe ich viele Klientinnen und Klienten im Coaching, die über besondere Fähigkeiten verfügen, die sie gerne ausleben würden und von denen gleichzeitig der Arbeitgeber ganz viel hätte. Lange Rede, kurzer Sinn: Offene, wertschätzende Gespräche sind nötig!

tb: Der Druck aus der Arbeitswelt schwappt zunehmend ins Privatleben über. Nach der Arbeit muss jetzt auch noch die Freizeit möglichst sinnvoll ausgefüllt werden. Welche Auswirkungen hat die zunehmende Leistungsorientierung in Arbeit und Privatleben auf uns? Welche Gefahren sehen Sie?

Tusch: Back to the roots. Fragen Sie sich: Was habe ich als Kind gerne gemacht? Welche Bedürfnisse stecken dahinter? Aktuell haben wir einen Trend zum Ursprünglichen: So gibt es zum Beispiel Ferienlager für 40-jährige, Handy-Detox, Natur, Gemeinschaft, Spielen … Sollte die Leistungsorientierung noch stärker auch ins Private überschwappen, dann können wir bald mit Freizeit-Burnouts rechnen. Ich arbeite zum Beispiel mit Menschen zusammen, die an den Wochenenden viel verreisen, unterwegs sind, sozialen „Verpflichtungen“ nachgehen – und massiv darunter leiden, weil Sie einfach mal nur Alleinsein und Ruhe genießen wollen.


“Die Verantwortung kann nur jeder für sich selbst übernehmen.”

tb: Haben Sie einen Rat für Menschen, die sich auf ihrer Arbeitsstelle ständig unter Druck gesetzt fühlen? Wie können sie den von Ihnen beschriebenen Zwängen im Beruf entkommen?

Tusch: Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Die Fragen sind: Woher genau kommt dieser Druck? Wer löst ihn aus? Was löst er in mir aus? Welche Strategien habe ich bislang eingesetzt? Was war daran erfolgreich? Was daran funktioniert noch nicht so gut? Was bräuchte ich stattdessen? Wer könnte mir dabei helfen? Welche Grenzen „muss“ ich setzen? Gegebenenfalls läuft es dann auf ein intensives Gespräch mit den Kollegen und Vorgesetzten hinaus. Dass andere etwas ändern ist recht unwahrscheinlich. Die Verantwortung kann nur jeder für sich selbst übernehmen.

Zu Prof. Dr. Manuel Tusch

Prof. Dr. Manuel Tusch ist Gründer und Leiter des Instituts für Angewandte Psychologie (IfAP). Neben seiner Lehrtätigkeit als Coach-Ausbilder bietet er über seine Firma Tusch Consulting unter anderem Business-Coachings, Training und Mediationen an. Außerdem ist er Autor mehrerer Sachbücher und hat neben weiteren Ratgebern auch den Spiegel-Bestseller “Ich will so werden wie ich bin – Für Selberleber” geschrieben.

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